Ältere Beiträge aus dem gehackten Forum




Einiges über die verfolgten Minderheiten und wie sie heute hier leben.

Ältere Beiträge aus dem gehackten Forum

Beitragvon vergessen » 04.03.2007, 07:30

Badische Zeitung 10.2.2003
'Furcht vor der Abschiebung
Veranstaltung mit Roma Flüchtlingen im Historischen Kaufhaus

Eingeladen hatte das Forum Zuwanderung" zu einer Vortragsveranstaltung über die Menschenrechtssituation im Kosovo. Gekommen waren in erster Linie Betroffene. Rund 100 Roma Flüchtlinge, die vor allen eines bewegte. Ihre drohende Abschiebung In ein zerstörtes Land, in dem ein freies und menschenwürdiges Leben ffir ethnische Minderheiten drei Jahre nach Ende des Bürgerkrieges noch immer nicht möglich ist

Diese Einschätzung vertraten die beiden Referenten Jasmina Prpic und Reinhard Kirpes, die im Dezember 2002 zwei Roma Lager in Plemetina und Zitkovac besucht hatten. Ein weiterer Zustrom von Flüchtlingen würde die Situation in dem Land noch unerträglicher machen," zeigte die bosnische Juristin anhand zahlreicher Dias auf. Außerdem bestehe für Roma, Ashkali und Ägypter aufgrund von Rachegelüsten der albanischen Bevölkerung in vielen Ortschaften Lebensgefahr, ergänzte Rechtsanwalt Kirpes.

Für die halbe Million kriegstraumatisierter Überlebender gebe es so gut wie keine ärztliche Betreuung, berichtete Kirpes. Auch die UN Verwaltung lehnt aufgrund der Menschenrechtssituation im Kosovo derzeit die Rückführung ab", sagte Rechtsanwalt Konstantin Thun, vom Forum Zuwanderung".

Gleichwohl erhöhe die baden württembergische Landesregierung seit Sommer vergangenen Jahres mit verkürzten Duldungsfristen und Ausreiseaufforderungen den Druck auf die landesweit 9000 Minderheitsangehörigen aus dem Kosovo. Maßnahmen, die Ängste erzeugten und Verzweiflung bei den Betroffenen hervorriefen. Dies machten die erregten Wortmeldungen der in überraschend großer Zahl erschienenen Flüchtlinge deutlich. Sie standen mangels Stühlen im hinteren Teil des Kaminzimmers des Historischen Kaufhauses.

"Wir schlafen jede Nacht in Kleidern, weil wir Angst vor einer Abschiebung haben", berichtete der 33 jährige Basko Maloko, der mit seiner Frau und sieben Kindern im Flüchtlingswohnheim in der Hagelstaudenstraße in St. Georgen lebt. Auf keinen Fall werde er in den Kosovo zurückgehen, bekräftigte auch Nazic Rustemi. Der 52 jährige Roma lebt mit seiner Frau seit drei Jahren im Wohnheim St. Christoph am Flugplatz. Meine Frau ist traumatisiert und muss behandelt werden", sagte er. Er besitze zwar in Pristina eine Wohnung, doch dort wohnten nun Albaner. Auch die 500 Euro Rückkehrhilfe, die die Landesregierung anbietet, kann den Vater nicht umstimmen. Was nützt uns das Geld, wenn wir unser Leben verlieren?", fragte er. Meine Kinder gehen hier zur Schule, meine älteste Tochter macht eine Ausbildung im Krankenhaus unsere Zukunft ist hier", betonte auch die 45-jährige Fatime Ramadani, die seit 1992 in Deutschland lebt. Wie bei den übrigen Bürgerkriegsflüchtlingen läuft die Duldung der Ramadanis am 31. März ab.

,Ich gehe davon aus, dass die befristeten Aufenthalte nochmals um drei Monate verlängert werden, doch ab Juni werden die Rückführungen beginnen", sagte Wilfried Kollnig, Vizepräsident des Freiburger Regierungspräsidiums. Die deutschen Innenminister hätten im Dezember bekräftigt, dass die Flüchtlinge aus dem Kosovo nicht von einer Rückführung ausgenommen werden dürften. ,Wir können nur in begründeten Einzelfällen, etwa bei nachgewiesenen Krankheiten, Ausnahmen machen", sagte Kollnig.
Angesichts von 530 in Freiburg lebenden Roma Flüchtlingen plant das ,Forum Zuwanderung" zusammen mit dem DGB, der Katholischen und Evangelischen Arbeitnehmerschaft und der Stadt im Frühjahr eine Fachtagung zur Zukunft der Kosovo-Flüchtlinge. höx


Süddt. Ztg. 24.5. 86
Das „fahrende Volk" der Sinti und Roma
Von Romantik keine Spur
Die Diskriminierung hat eine lange Tradition und sie hält an
Von unserer Mitarbeiterin Regina Kammerer

Zur Zeit der Türkenkriege, im 17. Jahrhundert, wurden sie als Spione der Türkei verfolgt , im Mittelalter wurden sie, obgleich mehrheitlich katholischen Glaubens, als Feinde der Christenheit angegriffen und während der Hexenverfolgungen als Zauberer gehängt. Im Dritten Reich verdächtigte man sie, Agenten Rußlands zu sein, oder schickte sie aus "kriminalpräventiven" Gründen in die Konzentrationslager. Die Palette der Anschuldigungen, mit denen sich die seßhaften Völker der unliebsamen Gäste, der "herumzigeunernden" Händler und Musikanten entledigen wollten, reicht weit. Die Vorwürfe gegenüber den Zigeunern wechselten inhaltlich, in ihren Auswirkungen für die ethnische Minderheit blieben sie sich gleich. Wir haben schon sehr viel erleiden müssen", meint die Schweizer Roma Carmen-Elena Ruefli, "wir sind für die anderen immer ein bißchen minderwertig gewesen. Wie lange gelingt es uns überhaupt noch, unsere Kultur aufrechtzuerhalten? Wo kannst du noch Nomade sein?"

Berechtigte Fragen, denn Sinti, Roma und Fahrende zählen heute in ganz Europa zu den sozial Schwachen; nach wie vor kämpfen sie mit Vorurteilen und einer Umwelt, die ihnen keinen Raum für ihre Lebensform läßt. Wie man das bereits vorhandene Mißtrauen der Bevölkerung weiter schürt, zeigte vor kurzem ein Karlsruher Polizeibeamter. In einer Stadtteilzeitung warnte er Bürger und Bürgerinnen: "Gangster, Gauner und Ganoven, Heiratsschwindler, Zigeuner und verkrachte Existenzen, sie alle wollen nur Ihr Bestes, nämlich Ihren Schmuck, Ihre Wertsachen und Ihr Geld. Und sie haben dazu auch die entsprechenden Tricks auf Lager, verfügen über die entsprechende Kaltschnäuzigkeit und Brutalität.“ Daß er damit durchaus auf positive Resonanz in Teilen der Bevölkerung hoffen darf, zeigt ein Leserbrief zu einem Zeitschriftenartikel über einen Richter, der drei Sinti Kinder monatelang einsperren ließ. "Ich möchte Amtsgerichtsdirektor Kubick gratulieren", heißt es da, "aber leider wird auch er es nicht schaffen, Zigeuner und Asoziale dorthin zu bringen, wo sie hingehören, nämlich in ein Arbeitslager!'

"Nomaden" als Einwanderer

Einzelfälle sind das nicht. "Immer noch", beklagt Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, "werden wir nicht als Minderheit anerkannt und respektiert. Wir werden von der Bürokratie als soziales Randproblem betrachtet, und in weiten Bereichen wird uns rassisch bedingte Kriminalität unterstellt!' Das "Herumziehen" als Lebensform hat dabei wenig mit der folkloristisch anmutenden Begeisterung zu tun, die ihren Ausdruck auch im neuerwachten' Carmen-Kult findet. Die Wirklichkeit hinter all den Klischees schaut anders aus. Wenn die soziale Verelendung fortschreite, bedeute dies, so Rose, „die Vernichtung einer Kultur, die seit einem halben Jahrtausend besteht".

Die europäischen Sinti machen darauf neuerdings verstärkt aufmerksam. Anfang Mai legte Romani Rose anläßlich eines Besuches beim Papst einen detaillierten Bericht über die gegenwärtige Situation der Sinti in Europa vor. Zudem versuchen Sinti und Roma nun intensiver, die internationale Zusammenarbeit auszuweiten, um ihre Situation zu verbessern. Gelegenheit bot ihnen dazu ~die Evangelische Akademie, in Tutzing, die vor kurzem zu einem europäischen Treffen eingeladen hat; ein noch bescheidener Versuch, denn außer in England, Irland und der Bundesrepublik gibt es bislang keine politisch aktive Vertretung der Volksgruppe in den einzelnen Ländern. In den meisten osteuropäischen Staaten ist es den Roma grundsätzlich untersagt, sich zu organisieren; in vielen westeuropäischen sind Sinti und Roma auf fremde oft paternalistisch ausgerichtete Hilfe angewiesen. Bis heute ist überdies ein festes Büro für die 1979 gegründete Welt Roma Union nicht finanzierbar. Wenn es nach dem Willen der europäischen Sinti und Roma geht, soll es demnächst zumindest ein westeuropäisches Büro in Straßburg geben neben der Anerkennung als ethnische Minderheit eines der Hauptanliegen des Tutzinger Treffens. Man hofft, dadurch mehr Einfluß auf Europarat und Europaparlament nehmen zu können sowie die Versuche der Sinti und Roma in den einzelnen Ländern, sich politisch Gehör zu verschaffen, zu fördern.
Schwierig ist eine schlagkräftige Interessensvertretung schon deshalb, weil diese Minderheit ohne Heimatland über die ganze Welt verstreut lebt. Schätzungsweise zehn Millionen Roma gibt es heute, die sich in Dialekten, Bräuchen und Verhaltensweisen unterscheiden. Sechs Millionen von ihnen sind in Europa angesiedelt, der weitaus größte Teil in Osteuropa. Von dort kamen im Laufe dieses Jahrhunderts auch die rund 15 000 Roma, die inzwischen in der Bundesrepublik leben. Dagegen sind die etwa 40 000 Sinti schon vor sechshundert Jahren in das Gebiet der jetzigen Bundesrepublik "eingewandert". Ihr Aussehen, ihre fremde Sprache und die nichtseßhafte Lebensweise erregten die Aufmerksamkeit, der ansässigen Bevölkerung. Schnell bildeten sich auch Legenden um die fremden Gestalten, die ursprünglich aus dem Norden Indiens, dem Punjab, stammen und deren Sprache, das Romanes, dem Sanskrit ähnelt. Dennoch wurden sie zunächst recht freundlich aufgenommen, viele trugen Schutzbriefe von Fürsten bei sich, die ihnen freies Geleit versprachen.

Mit veränderten wirtschaftlichen Bedingungen wandelte sich die Situation der Sinti: Zwischen 1497 und 1744 wurden 146 Edikte gegen die nomadisierenden Zigeuner erlassen, auf den Reichstagen von 1497 und 1498 wurden sie für vogelfrei erklärt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden die ersten Zigeunergesetze, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die Obrigkeit, Zigeuner mittels spezieller Karteien zu registrieren. Die Nationalsozialisten schließlich betrieben die systematische Vernichtung des Volkes. Ober 500 000 Zigeuner und so genannte Zigeunermischlinge wurden während der NS Zeit ermordet. Eine Wiedergutmachung blieb Angehörigen und Überlebenden nach 1945 weitgehend versagt, moralisch wie finanziell, Noch 1956 konstatierte der Bundesgerichtshof (BGH), bei einer Zwangsumsiedlung von Zigeunern im Jahre 1940 habe es sich nicht um eine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme aus rassischen Gründen im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes gehandelt. Der BGH schrieb in die Urteilsbegründung: "Da die Zigeuner sich im weiten Maße einer Seßhaftmachung und damit der Anpassung an die sesshafte Bevölkerung widersetzt haben, gelten sie als asozial ... Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weit ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist. Sie wurden deshalb von der Bevölkerung als Landplage empfunden."

Allen politischen Bekenntnissen zum Trotz die bundesdeutschen Parteien haben sich Ende vorigen Jahres in einer Bundestagsdebatte zu ihrer Verantwortung gegenüber Sinti und Roma bekannt hat sich in ihrer Situation wenig geändert. Noch immer sind die Zigeuner Opfer zweiter Klasse. Nach Schätzungen des Zentralrates gibt es etwa zweitausend anspruchsberechtigte Sinti und Roma, die im Konzentrationslager gesundheitliche Schäden erlitten haben. Eine Mindestrente in Höhe von tausend Mark für diese NS-Opfer hat der Zentralrat bislang vergeblich gefordert.

Die Vernichtung einer Kultur geht, wie Berichte aus einzelnen Ländern anläßlich der Tutzinger Tagung zeigen, auch in anderen europäischen Staaten unvermindert weiter. Übereinstimmend wird von Restriktionen berichtet in einem Bereich, in dem es Sinti, Roma und Fahrende ganz besonders trifft: Mangel an Standplätzen und häufige Vertreibungen hindern die Mitglieder der ethnischen Minderheit, so zu reisen, wie es aus wirtschaftlichen Gründen nötig und aus Verpflichtungen der eigenen Sippe gegenüber erforderlich wäre. Zwar existieren, außer in Polen, wo das freie Reisen seit 1963 gesetzlich verboten ist, keine Gesetze. die die Fahrenden direkt diskriminieren, wohl aber solche, die in ihrer praktischen Anwendung diskriminierend wirken.

So gibt es vielfach Standplatzgesetze, die sich gesondert auf Fahrende beziehen und in Wohnwagen reisende Touristen ausnehmen. Oder die Möglichkeiten eines kurzfristigen Aufenthalts werden erschwert, indem, wie der französische Soziologe Jean Pierre Liégeois berichtet, "eine Umkehrung der Perspektiven" zu beobachten ist: Aus dem Verbot, Wohnwagen an bestimmten, genau zu bezeichnenden Plätzen aufzustellen, wird dann, wie ein Frankreich, ein generelles Verbot mit Ausnahme bestimmter kontrollierter Lagerplätze. Die Art und Weise, wie mit dem Problem der Standplätze umgegangen wird, läßt vermuten, daß in allen europäischen Ländern Gleichbehandlung zunächst einmal Anpassung an die gebräuchliche Lebensform voraussetzt. Und wenn wie in Italien das Schild "Für Nomaden verboten" einfach durch die Aufschrift "Verbot des Aufenthalts von Caravans" ersetzt wird, hat sich für die Betroffenen nichts
geändert die Diskriminierung ist lediglich nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen.

In allen europäischen Ländern ist die wirtschaftliche Lage der Sinti und Roma gekennzeichnet durch hohe Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von der Sozialhilfe von der sozialen Geringschätzung ganz zu schweigen. Eine verschwindend geringe Zahl steht in einem festen Arbeitsverhältnis. In der Bundesrepublik, wo inzwischen neunzig Prozent der Sinti und Roma sesshaft sind, liegt die Arbeitslosenquote bei etwa 25 Prozent fast dreißig Prozent der Familien muß monatlich mit weniger als tausend Mark auskommen. Die meisten arbeiten als selbständige Händler. Es fällt freilich schwer, in den traditionellen Berufen, als Kupferschmied oder Korbflechter, zu überleben und mit der industriellen Entwicklung Schritt zu halten, Nach einer italienischen Umfrage schwankt dort die Arbeitslosenzahl regional zwischen sieben und vierzig Prozent. Am Rande des Existenzminimums leben die Fahrenden in Großbritannien und Irland, wo noch etwa die Hälfte in Wohnwagen und Zelten. umherreist In Irland sind die meisten auf Wohlfahrtszahlungen angewiesen, die sie oft durch Schrotthandel aufbessern; nur einige wenige sind Kupferschmiede und stellen Messing und Kupferware für den Handel her.

Sesshaftigkeit als Bedingung

Auch die schulische Situation ist größtenteils katastrophal. In England beispielsweise besuchen etwa siebzig Prozent der Kinder von Fahrenden keine Schule, in Irland erhält nur die Hälfte der Roma Kinder regelmäßig Unterricht. Das liegt unter anderem auch daran, daß die meisten Kinder vor Schulbeginn nur Romanes sprechen oder eine landesspezifische Dialektform und plötzlich mit Wertvorstellungen konfrontiert werden, die ihnen fremd und unzugänglich sind. In den skandinavischen Ländern richtet man deshalb häufig Sonderklassen ein. Dort gibt es inzwischen auch Modellprojekte, mit denen man sich bemüht, den Roma bessere Berufschancen zu vermitteln Versuche, die Romani Rose als "wegweisend" bezeichnet. je mehr die Unterschiede verwischen", meint andererseits Carmen Elena Ruefli, "desto schwieriger wird es. Viele wissen dann nicht mehr, wo sie eigentlich hingehören!'

Daß öffentliche, auch wohlmeinende Hilfe nicht immer im Sinne der Betroffenen sein muß, zeigt schließlich das Beispiel Jugoslawiens. Hier versucht der Staat, die Roma anzusiedeln und in sesshafte Berufe (etwa in der Landwirtschaft) zu überführen. „Von der staatlichen Gesellschaft her gesehen", sagt dazu der Völkerrechtler Professor Karl Josef Partsch, "ist dies sicherlich die ideale Lösung. Allerdings nicht in den Augen der Roma. Doch unsere Rechtsformen sind nun mal auf sesshafte Völker zugeschnitten!' Carmen Elena Ruefli drückt es härter aus: "Für Nomaden ist im Grunde genommen in Europa heute kein Platz mehr!“
Wo kein Platz ist für fahrendes Volk, finden sich folgerichtig Reservate: Wenn sich im südfranzösischen Saintes Maries de la Mer Ende Mai Zigeuner aus allen Teilen Europas zur traditionellen Wallfahrt versammeln, wird dies wieder ein allseits beliebtes Touristenspektakel und willkommener Augenschmaus für eigens angereiste Photographen sein, die dem Rest der Welt Nachricht geben werden von der Exotik der letzten Nomaden Europas.

Foto:
WÄHREND DES NATIONALSOZIALISMUS wurden über 500000 Zigeuner ermordet. Bis heute kämpfen Sinti und R,oma hier bei einer Gedenkfeier im ehemaligen KZ Bergen Belsen um ihre
Anerkennung als Opfer. Photo: SZ Archiv



"Europa hat eine Verantwortung" Bad. Ztg. 12.10. 00
Den Roma und Sinti eine Stimme im Europäischen Parlament: Ein leidenschaftliches Plädoyer des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass in Straßburg

Zum Auftakt einer dreitägigen Europarat-Konferenz gegen Rassismus und Intoleranz in Straßburg Ist der Schriftsteller Günter Grus für die Rechte der Roma und Sind eingetreten, der größten und dennoch nicht ausreichend anerkannten Minderheit in Europa.

Im Verlauf des vergangenen und verregneten Sommers - während einer Zeit also, die man auch die Saure Gurken-Zeit nennt und die, was den Nachrichtenmarkt betrifft, gerne von den Hinterbänklern mit der Politik mit Horrormeldungen. gefuttert wird, stand. diesmal ein wirkliches Thema im Mittelpunkt und erregte die Öffentlichkeit. Als habe, es ihn vorher nicht gegeben, wurde plötzlich in Deutschland der Rechtsradikalismus als Gefahr entdeckt; eine Reihe brutaler Gewalttaten es gab Tote – trug dazu bei. Da etliche der jugendlichen Schläger im Osten der Bundesrepublik leben und dort tätig werden, geriet der zeitgleiche, aber noch immer unaufgeklärte Mordanschlag von Düsseeldorf in den Hintergrund, und da wir in Deutschland dazu neigen, trotz Wegfall der Mau er, uns als Ost und Westdeutsche zu definierten sollen es wieder einmal die Ostdeutschen gewesen sein, die den Nährboden bereitet haben.

Angekränkelt durch Ihr kommunistisches Erbe, haben sie als besonders anfällig zu gelten, als gäbe es im Westen nicht seit Jahrzehnten dort angestammte Brandstifter und – wie es das rechtsextreme Rollenspiel fordert entsprechend gesittete Biedermänner. So kam denn auch aus Bayern recht forsch der Ruf nach dem Verbot der NPD. Nur zögerlich meldeten sich einige Gegenstimmen: Mit einem Verbot alleine sei dieses Problem nicht zu bewältigen. Schnell waren die leicht erkennbaren Skinheads als Übeltäter ausgemacht. Doch zeigte sich bald, dass die so treffsicher anmutende Bemerkung von offenkundigen Rassisten und Totschlägern nur die Oberfläche der gewaltsamen Vorgänge kratzt; es fehlt der Mut, die Biedermänner als regierungsverantwortliche Mittäter beim Namen zu nennen.

„Der Fisch beginnt vom Kopf her m stinken.'

Wie in anderen europäischen Ländern, so auch in Deutschland. der Fisch beginnt vom Kopf her zu stinken. Dennoch wurde vergessen oder verdrängt, dass es der bayerische Ministerpräsident Stoiber gewesen ist, der vor Jahren, zu Beginn der Asyldebatte, mit demagogischen Tremolo vor einer „Durchrassung des deutschen Volkes" gewarnt hat. Und vor bald einem Jahre hörten wir ebenfalls Herrn Stoiber, der die Österreichische Volkspartei ermuntert hat, mit der sich liberal nennenden Haider Partei eine Koalition einzugehen. Eigentlich sollte uns noch in Erinnerung sein, mit welch rassistischen Nebentönen anlässlich der Wahlen in Hessen der jetzige Ministerpräsident Roland Koch die längst überfällige Einbürgerung von Ausländern, die seit langer Zeit In Deutschland leben, zu hintertreiben versucht hat In Nordrhein-Westfalen ging zwar die Kampagne Kinder statt Inder«, was das dortige Landtagswahlergebnis betrifft daneben, aber auch sie war ein Beweis dafür, wie verantwortungslos Politiker, die nach dem Verbot der NPD verlangen, punktuell die rassistische Politik genau dieser Partei betreiben.

Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, doch will Ich mich darauf beschränken, die Demontage des Asylparagraphen In der Verfassung der Bundesrepublik und die Folgen dieser auch von der SPD mitgetragenen Entscheidung als einen der Gründe zu nennen, die zum Anwachsen des Rechtsradikalismus und zum Anschwellen der Gewalttätigkeiten geführt haben. Seitdem ist der inhumane Umgang mit Asylsuchenden zur rechtsstaatlichen Praxis geworden.

Mehr noch, in Ihrer Alltäglichkeit einen selbst skandalöse Vorfälle kaum noch die Öffentlichkeit. Allenfalls sind !s kleine Gruppen, die Anstoß nehmen und zu helfen versuchen, indem sie Kirchenasyl gewähren, vergeblich gegen die brutale Trennung von asyIsuchenden Familien protestieren oder als Schulklassen einen kurdischen Mitschüler mit Protestbriefen vor dem angekündigten Zwang der Ausweisung schützen wollen. Es ist als habe man sich damit abgefunden, dass in Deutschland grob geschätzt viertausend Menschen hinter Schloss und Riegel in Abschiebehaft gehalten werden, als seien sie Kriminelle. Gelegentlich erregt ein
Selbstmord auf dem Frankfurter Abschiebeflughafen ein, zwei Tage lang die Gemüter, dann herrscht wieder Ruhe im Rechtsstaat.

Man beruft sich auf das Schengener Abkommen, weist auf die Praxis anderer Länder hin, will bestätigt haben, dass es in Deutschland relativ liberal zugehe, und unterscheidet neuerdings zwischen Asylsuchenden, die der deutschen Wirtschaft nützlich werden können, und solchen, die dem Volk oder trefflicher gesagt, dem Steuerzahler zur Last fallen. „Selektieren« heißt dieses aus von Verbrechern belasteter Vergangenheit herrührende System der Auslese.

So geht es in Deutschland zu. Sind die Zustände In unseren Nachbarländern besser? Ich will nicht vergleichen und Noten verteilen Dennoch ist insgesamt zu sagen dass sich die europäische Union inklusive zukünftiger Beitrittsländer mehr und mehr als Festung begreift. Europa will sich dicht machen, um dem Eindringen der Elenden, die aus Afrika, Asien und Russland kommen, kommen wollen oder bereits unterwegs sind, widerstehen zu können. Das ist nicht einfach. Die langen Meeresküsten Spaniens und Italiens, die rigorosen Schleuserbanden, die Durchlässigkeit der osteuropäischen Grenzen, all das spricht gegen den Erfolg der Festungsbauer. Noch behilft man sich mit der Abschiebepraxis. Noch glaubt man mit wenn auch zögerlichen und unzureichendem Schuldenerlass den armen Ländern genügend Hilfe zu gewähren. Doch innerhalb Europas macht sich Festungsmentalität breit.

Immer neue Gesetze werden erlassen, die die demokratischen Spielräume verengen. Dem Rechtsradikalismus, der oft genug die regierungsamtliche Politik auf die brutalst möglichste Weise In die Tat umsetzt, will man, wie gesagt, mit einem Parteiverbot der NPD bekommen. Das Denken verengt sich. Ängste gehen um, die sich aus latenter und oft genug mit politischem Kalkül ermunterter Fremdenfeindlichkeit speisen. Da es aber nicht gelingt, Europas Grenzen nach außen total abzusichern, richtet sich der einmal entfesselte Sicherheitswahn gesamteuropäisch auch gegen Minderheiten, die seit Jahrhunderten Mitbewohner unseres Kontinents sind.

Von ihnen soll hier die Rede sein. Sie stehen ständig unter Verdacht. Sie sind allerorts nur geduldet, ihm Existenz Ist von starren Vorurteilen beschwert. Man hat sie diskriminiert, verfolgt und während zwölf Jahren, als nach deutschen Rassegesetzen Recht gesprochen wurde, deportiert und In Konzentrationslagern ermordet. Sie werden, wenn Schuld eingestanden wird, vergessen oder allenfalls beiläufig genannt. Ich spreche von Sinti und Roma.

Die grob geschätzt zwanzig Millionen Angehörigen dieses Volkes bilden die größte und dennoch nicht ausreichend anerkannte Minderheit Europas. Sie sind wie ohne Stimme. Das heißt: Sie sind da, doch dort, wo gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, werden sie nicht wahrgenommen. Wenn von ihrer Kultur die Rede Ist, fehlt es nicht an schwärmerischen Hinweisen auf die Zigeunermusik und deren Einflüsse auf spanische, ungarische und deutsche Komponisten. Man tut einerseits so, als bestehe das Volk der Roma aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber andererseits nicht bereit, über Proklamationen hinaus dieser so zahlreichen Minderheit zu einem demokratischen Mitspracherecht zu verhelfen.

Ich muss mich korrigieren: In Ansätzen gibt es diese Mitsprache. In der jungen und bisher von den blutigen Wirren des Balkans verschonten Republik Mazedonien sind Abgeordnete aus vier Roma Parteien im Parlament vertreten In einigen Stadtbezirken der Hauptstadt ist sogar Romanes, die Sprache der Roma, Amtssprache. Doch in Tschechien, wo selbst unter kommunistischer Herrschaft dem Parlament elf Abgeordnete der Roma-Minderheit angehörten, ist es seit der politischen Wende mit dieser Mitsprache vorbei.

„Er kommt darauf an, mutig politische Zeichen zu setzen.'

Als kürzlich in Prag en Kongress der Internationalen Romani Union stattfand und sich vierhundert Vertreter der weit zerstreuten Minderheit versammelt hatten wurden all die europaweit zu belegenden Ungerechtigkeiten laut, die seit Jahrhunderten dem Volk der Roma zugefügt werden; Diskriminierung, Ausgrenzurig, Vertreibung, Verfolgung, Totschlag. So sind zur Zeit von den zweihundertachtzigtausend Roma Angehörigen Im Kosovo nur noch acht bis zehntausend geblieben, die, in Ghettos gepfercht, zu überleben ersuchen; der Großteil hat, verfolgt vom Hass und den Gewalttätigkeiten der Serben und Albaner. die Flucht ergreifen müssen. Die Kfor Soldaten waren und sind nicht in der Lage, sie vor dem doppelten Hass zu schützen, sei es, weil de überfordert sind sei es, weil wieder einmal den Angehörigen des Roma Volkes Schutz wr weigert wird. Und dennoch wurde auf dem Kongress in Prag kühn und aus verletztem Selbstbewusstsein von der Nation der Roma gesprochen. Ein Beschluss wurde gefasst, nach dem in Brüssel ein Büro der Internationalen Organisation eingerichtet werden soll Denn auch dort sind die Rom ohne Stimme.

Doch das ist und kann nicht genug ;ein. Eine so große Minderheit, die bei ins in geringerer Zahl, doch In Spanien und Portugal, in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien überaus zahlreich Ist verlangt nach einem demokratischen Mitspracherecht. Wo anders sollte ein solches Recht verwurzelt sein als hier in Straßburg, im Europäischen Parlament. Es Ist nicht damit getan, dass dann und wann so feierliche wie gutwillige Resolutionen verabschiedet werden, die dem Volk der Roma ihre ohnehin unübersehbare Existenz bestätigen. Vielmehr ist es an der Zelt, den hochgesteckten Ansprüchen der immer größer werdenden Europäischen Union gerecht zu werden.

Europa muss mehr sein als ein erweiterter Markt und eine auf Wirtschaftsinteressen ausgerichtete Bürokratie. Europa hat eine gemeinsame, wenn auch widerspruchsvolle und allzu oft in Krieg und Gewalt umschlagende Geschichte; seit dem 15. Jahrhundert sind die Gitanes, Gypsies Zigeuner dieser Geschichte zugehörig, oft genug als Leidtragende. Europa in seiner Vielgestalt hat eine sich wechselseitig inspirierende Kultur, wer wollte leugnen, dass insbesondere die Musik von der Musikalität der Roma beeinflusst worden ist. Und Europa hat eine gemeinsame Verantwortung.

Nach einem Jahrhundert, indem totalitäre Ideologien und Rassenwahn, Weltkriege und Völkermorde, blindwütige Zerstörung und Manenvertreibungen unseren Kontinent wiederholt an den Abgrund gebracht haben, sich aber schließlich doch ein demokratisches Selbstverständnis erprobt und endlich auch eingebürgert hat sollte es möglich sein, der größten Minderheit in Europa im Straßburger Parlament Sitz , und Stimme zu geben.

Schon bei der nächsten Europawahl könnten die Vertreter der Roma mit einer gemeinsamen Liste Mandate anstreben. Ich weiß, der Weg bis zu einem demokratischen Wahlgang ist mit Schwierigkeiten besonderer Art gepflastert. Nicht nur die eingefleischten Vorurteile gegenüber Zigeunern werden gegen einen solchen Entschluss wirksam werden, auch wird es nicht leicht sein, die Angehörigen des Roma-Volkes, unter ihnen viele Staatenlose, dazu zu bewegen, sich für eine Wahl registrieren zu lassen. Allein dieses Wort ruft bei ihnen Erinnerungen wach an hunderttausende Familienangehörige, die registriert und mit Hilfe genau geführter Listen verhaftet, deportiert, in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Also ist die Scheu vor der Registrierung selbst dann, wenn sie für eine demokratische Wahl Voraussetzung ist, verständlich und muss doch überwunden werden.

Hinzu kommt, dass Romanes, die Sprache der Roma, nur in Ansätzen verschriftlicht ist. Zwar wird sie in allen europäischen Ländern neben der Landessprache von den Roma und Sinti in jeweiligem Dialekt gesprochen, aber diese innere Verständigung dringt nicht nach draußen. Sie kapselt ab. Sie bot und bietet Schutz. Sie ist die Gemeinsprache der Diskriminierten und Verfolgten. Doch auch diese Widerstände müssen nach und nach überwunden werden. Auf der Prager Tagung der Internationalen Romani Union wurden solche Forderungen laut. Es könnte, zum Beispiel, Aufgabe der europäischen Behörden und der Europäischen Investitionsbank sein, mit einem langfristigen Programm die Sprachentwicklung des Romanes zu fördern. Nur so wird sich den Kindern der Roma und Sinti der Weg zu weiterführenden Schulen und in die Universitäten öffnen lassen, nur so können sie in ausreichender Zahl zu Sprechern ihres Volkes werden.

Es mag Sie ein wenig verwundern, m Ich hier mit einem Vorschlag aufwarte, dem schier unüberwindliche Widerstände garantiert sind. Zudem komme ich aus einem Land, dessen Missstände und Skandale zwar zum Himmel stinken, doch außer Naserümpfen bisher wenig zur Folge gehabt haben. Schließlich sind vor zwei Jahren, anlässlich eines ganz normalen
Regierungswechsels, im Amt des Bundeskanzlers zwei Drittel der Akten gelöscht, vernichtet, geschreddert worden; .:schließlich weigert sich in Deutschland, einem Land, das noch immer an der Verantwortung für begangene Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus trägt, eine Vielzahl von Industriebetrieben, Schadenersatz für die wenigen noch lebenden Zwangsarbeiter zu zahlen; . und schließlich komme ich aus einem Land, in dem rechtsradikaler, Straßenterror durch fremdenfeindliche Politik zusätzlich Auftrieb erfährt. Drei Gründe, die mich dazu bringen sollten ausschließlich vor der eigenen Tür zu kehren.

Doch das hier in Straßburg gesetzte Thema ist von grenzüberschreitender Bedeutung. Und weil es nicht damit getan ist, in wohlformulierten Erklärungen gegen den Rassismus zu protestieren, es vielmehr darauf ankommt, mutig politische Zeichen zu setzen, wiederhole ich einen Vorschlag als Forderung. Für das europäische Parlament in Straßburg wäre es ein Gewinn, wenn in ihm die Abgeordneten des Roma Union Sitz und Stimme hätten. Sie sind Europas beweglichste Bürger. Sie überwinden Grenzen. Sie sind mehr als alle anderen bewährte, weil leidgeprüfte Europäer.
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