Märchenschloss und Höllenschlund




Einiges über die verfolgten Minderheiten und wie sie heute hier leben.

Märchenschloss und Höllenschlund

Beitragvon vergessen » 06.12.2006, 22:10

Eben aus der Sicht eines Korrespondenten nicht meine Sichtweise
UNSERE AUSLANDSKORRESPONDENTEN BERICHTEN: NORBERT MAPPES-NIEDIEK, BUKAREST
Märchenschloss und Höllenschlund
Wohlstand und Elend sind bei den Roma nur eine Autofahrt voneinander entfernt
Wenn hinter den Birken die Sonne untergeht, steigt aus den Wiesen langsam der Nebel auf. Dann fällt Sintesti, ein Dorf nur zehn Kilometer vor dem lärmenden Bukarest, ganz aus Welt und Zeit. Frauen mit strengen schwarzen Zöpfen, großen Ohrringen und knallbunten, fußlangen Röcken kommen auf den Höfen zusammen und zünden Feuer an. Riesige graue Häuser beherrschen das Dorf, alle mit hohen, kunstvoll verzierten Dächern aus grauem Zinkblech. Märchenschloss steht hier an Märchenschloss. Der schönste und größte Palast gehört dem
Bulibasha, dem Zigeuner-Häuptling. In einem Büro, hinter einer hohen, kalt verfliesten Halle mit drei nagelneuen Ledersofas, sitzt ein Mann, der sich als Vasile Ionescu vorstellt.
Wenn Herr Ionescu spricht, kehren Ort und Zeit zurück. „Mit dem Roma-Problem geht die EU sehr widersprüchlich um", sagt er und fährt sich durch den zottigen Bart. Aber kann man es ihr verdenken? Sintesti ist ein Dorf der Kaldarashi, der „NomadenRoma", die Alteisen verwerten. Wenn man das hier alles zauberhaft und exotisch finde, könne er das verstehen, erzählt Vasile Ionescu. Aber die Faszination des „Exotismus", mahnt er, bedeute leider auch „allzu oft Ausgrenzung".
2007 treten der Europäischen Union mit Bulgarien und Rumänien auch drei bis vier Millionen Roma bei. Zusammen mit den schon rund anderthalb Millionen in Ungarn, der Slowakei und Tschechien sind sie damit so zahlreich wie Finnen oder Dänen. Aber vergleichen lassen sie sich mit nichts und niemandem.
Vom Märchendorf in die Hölle ist es mit dem Auto eine gute Viertelstunde. Auch in Zabrauti spielt sich das Leben vor dem Haus ab. In der kleinen Siedlung aus fünf heruntergekommenen Plattenblocks leben ähnlich viele Menschen wie in Sintesti: etwa tausend. Auf den Erdbuckeln, die einmal Vorgärten hätten werden sollen, spielen Kinder im Dreck. Ins Haus können sie schlecht. Das Treppenhaus hat kein Licht, weil es keinen Strom gibt, und es zieht, weil die Fenster kein Glas mehr haben.
Cristina, 18, wohnt hier mit dem 20-jähri- gen Bogdan. Die Tochter, neun Monate alt, haben sie jetzt zur Tante gegeben. „Hier geht es nicht", sagt Cristina. „Zu laut, dreckiges Wasser, Tuberkulose." In ihre Einzimmerwohnung mit den Wasserflecken an der Decke passen auf knapp zehn Quadratmeter ein Herd mit Gasflasche, die Bettcouch und eine Kommode. Wenn man die Schubladen öffnen will, muss man das Kinderbett abrücken.
Obwohl seit tausend Jahren auf dem Kontinent, passen die Roma in keine europäische Schublade. Wer Cristina und Bogdan
und alle die Unglücklichen von Zabrauti als „ethnische Minderheit" qualifiziert, bewegt sich hart an der Grenze zum Zynismus. Zu „Kultur" oder „Lebensweise" lässt sich das Elend hier nicht umdeuten.
Florica zum Beispiel, die über der jungen Familie wohnt, hat 28 Jahre als Verkäuferin gearbeitet. Dann starb der Mann. Sie musste das Haus verkaufen, wurde krank und verlor ihre Arbeit. So beginnen viele Erzählungen in vielen Elendsvierteln Europas. Aber Florica wäre vielleicht nicht in Zabrauti gelandet, wenn sie eine hellere Hautfarbe hätte. Mit ihrem dunklen Teint, meint sie, war sie dem Absturz immer auch dann nahe, als es ihr gut ging.
Nur gut eine halbe Million rumänische Staatsbürger bekennen sich bei Volkszählungen freiwillig als Roma. Wenn Roma eine Identität ist, dann eine verhasste, eine, die einem am Bein klebt. Dagegen spricht der Stolz des Philologen Vasile Ionescu auf die tausendjährige mündliche Überlieferung ebenso wie die dicken BMWs in den Höfen der Alteisenhändler von Sintesti. Was die Roma aller Kategorien zusammenhält, ist offenbar vorwiegend der Hass der anderen.
In Rumänien sind sie als ethnische Minderheit anerkannt, in Frankreich, wo alle Menschen ungeachtet der Herkunft als Franzosen gelten, nicht. Beides sei „Heuchelei", sagt der Europäer Vasile Ionescu.
Brüssel setzt auf die Selbstbestimmung der Roma, auf Autonomie und nationales Selbstbewusstsein. Der Erfolg ist kümmerlich. Zwar sind in Rumänien jede Menge Roma-Parteien registriert, darunter auch eine für die Kaldarashi und eine für die „Bergleute und Musikanten". Was aber fehlt, sind die Wähler. Nicolae Paun ist unter 330 Abgeordneten der einzige Roma, und auch er sitzt nur dort, weil der „ethnischen Minderheit" per Verfassung ein Parlamentssitz zusteht.
Paun engagiert sich im Menschenrechtsausschuss, wo es viel zu tun gibt: Immer wieder werden alltägliche Gemeinheiten berichtet - wenn etwa die Polizei bei 15 Grad minus illegale Slum-Hütten abreißt oder ein Krankenhaus die Roma-Patientinnen von den anderen isoliert. Aber wenn Pauns Name fällt, winken die Leute von Zabrauti nur ab. Wenn sie wählen, ist den Leuten von Zabrauti die ethnische Zugehörigkeit herzlich egal - anders als sonst auf dem Balkan.
Was die Europäer den Bosniern austreiben wollen, versuchen sie den rumänischen Roma gerade beizubringen. Zu denken gibt das nur wenigen - Leuten wie Vasile Ionescu zum Beispiel. Vielleicht hilft dem aus der Welt gefallenen Ionescu die unwirkliche Kulisse von Sintesti, sich aus dem realen Europa davonzuträumen. Da könnten Roma frei umherziehen, ohne sich um Grenzen zu scheren. Ihre Hautfarbe wäre egal. Wenn sie Hilfe bräuchten, bekämen sie sie, nicht weil sie Roma oder Rumänen oder Franzosen wären, sondern weil sie welche bräuchten. Aber dass es die Roma sind, die eines Tages das Europa-Problem lösen, hofft selbst Vasile Ionescu nicht.
vergessen
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von Anzeige » 06.12.2006, 22:10

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